Taxi-Elend heute

Die Ausbeutung im Taxigewerbe ist brutal und hat wirtschaftliche Folgen, für Einzelne und für die Gesellschaft.
Ein Text aus der Werkstatt.

20. Februar 2021 von Klaus Meier
 

Auf meinem Schreibtisch liegen drei Stapel Abschreiber. Jeder enthält die Schichtaufzeichnungen eines Taxifahrerjahres, Arbeitszeiten, Einnahmen, Kilometerstände und Konzessionsnummern. Die Aufzeichnungen berichten von einem Mann, der ohne Unterlass an sechs Tagen der Woche 10 bis 12 Stunden gearbeitet hat, manchmal mehr. Jahrelang. Ohne Urlaub. Ohne Pause.

Die Lohnabrechnungen daneben zeichnen ein anderes Bild. Hier entdecke ich einen Arbeitnehmer, der 30 bis 35 Stunden pro Woche mit dem Taxi gearbeitet hat, dafür den Mindestlohn und Zuschläge erhalten und ein bescheidenes Leben mit viel Freizeit geführt hat.

Der wirkliche Mensch, über den so widersprüchliche Aufzeichnungen existieren, sitzt vor mir, und berichtet, dass er nicht einmal den Lohn erhält, den seine Lohnabrechnungen ausweisen. Seine Kontoauszüge zeigen monatliche Zahlungen des Taxibetriebs in Höhe von 600 Euro bis zum Beginn des ersten Shutdowns im Jahr 2020. Danach gibt es kein Gehalt mehr. Es ist November des Jahres, das Konto ist leer. In den Monaten zuvor musste der Kollege entscheiden, ob er essen oder seine Miete bezahlen würde.

Es gibt ein weiteres Konto. Die Bank hat es für ihn angelegt, als er im Jahr 2018 einen Kredit über mehrere tausend Euro aufgenommen hat. Den benötigte er, um seine Lebenshaltungskosten zu bestreiten, Essen und Kleidung zu kaufen. Das Geld ist zwei Jahre später aufgebraucht, und er kann die Raten nicht mehr bezahlen. Sein Optimismus, es würde schon besser werden, wurde enttäuscht. Jetzt drohen ihm Insolvenz und Verlust seiner Wohnung.

Die befindet sich im Keller eine abgelegenen Haus. Es ist ein Zimmer ohne eigenes Bad, das exakt so viel kostet, wie das Jobcenter für die Zimmer seiner Nachbarn ausspuckt, 440 Euro pro Person. Ich verstehe, dass mein Kollege von monatlich 160 Euro und seinem kargen Trinkgeld lebt. Der Hartz-IV Bedarfssatz für Alleinstehende beträgt 432,00 Euro. Der Kollege erhält für knapp 70 Stunden wöchentliche Arbeit 272,00 Euro weniger als seine Zimmernachbarn.

Ähnlich wie ihm geht es vielen Menschen, die aus der Welt der tarifvertraglich abgesicherten Tätigkeiten herausfallen und versuchen, als Taxifahrer über die Runden zu kommen. In München und besonders in Berlin herrscht in der Taxibranche unregulierter Kapitalismus. Tausende Unternehmen gewähren ihren Angestellten nicht die grundlegendsten Ansprüche, über die sich Angehörige des öffentlichen Dienst und Angestellte der traditionellen Großbetriebe keine Gedanken machen, so selbstverständlich sind die für sie.

Im Taxi fahren viele unsichtbare Gäste mit, die eigentlich dafür sorgen sollen, dass der Taxifahrer seinen Lohn und Sozialleistungen erhält. Dazu gehören Bundestag und -regierung, die Stadt Berlin mit ihrer Taxi-Aufsichtsbehörde, der Zoll und die FInanzkontrolle Schwarzarbeit und das FInanzamt. Der Chef sitzt auch unsichtbar mit im Auto und erzählt die ganze Zeit, dass er den anderen Mitfahrern so viel Geld geben muss, dass er dem Fahrer nicht den MIndestlohn bezahlen kann. Der Taxifahrer arbeitet und alle wollen das Geld, das er einfährt.

In den Taxibetrieben werden Minimallöhne weit unterhalb der gesetzlichen Ansprüche durchgesetzt, indem die Angestellten unter permanenten Druck gesetzt werden. Ihre Arbeitgeber machen ihnen weis, sie wären schlechte Arbeiter und müssten sich nur anstrengen, um ordentlich zu verdienen. Das klappt nur, wenn die Angestellten schwarz arbeiten und gemeinsam mit dem Boss den Staat um Sozialleistungen betrügen. Der Kollege in meinem Büro hat nichts davon getan. Er hat darauf vertraut, dass sein Chef für ihn tut, was er kann.

Heute ist die Wohnung des Kollegen gesichert und er erhält staatliche Unterstützung, um eine bessere Arbeit zu finden. Wir haben seine Schichtzettel durchgearbeitet und er wird mit Unterstützung seines Anwalts versuchen, den Lohn einzufordern, der ihm vorenthalten wurde.

Durch Beschäftigung mit seinen Arbeitsaufzeichnungen und mit denen weiterer Kollegen beginne ich die wirtschaftlichen Zusammenhänge und die Größenordnung des Lohnraubs im Berliner Taxigewerbe zu verstehen. Es geht um etliche dutzend Millionen im Jahr. Nicht alle betroffenen Kollegen sind von Wohnungslosigkeit bedroht. Alle leiden unter der Situation.

Vorausgesetzt der berühmte politische Wille stellt sich ein, könnten sowohl Uber-Mietwagen als auch Taxis mit einem Zeiterfassungssystem ausgerüstet werden, das sich nicht austricksen läßt. Die gesetzliche Grundlage dafür ist vorhanden. Das Problem des Uber-Lohndumping wäre damit schlagartig erledigt und es gäbe fairen Wettbewerb unter verschiedenen Mobilitätsangeboten. Das wäre schön, oder?.

Träum weiter? Man wird ja noch träumen dürfen.

 

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